Mein Kommilitone der Flüchtling

E-mail vom Prof: Mein Kommilitone der Flüchtling

Liebe Studierende,

engagieren Sie sich bereits in einem der zahlreichen Willkommensprojekte für Flüchtlinge an deutschen Unis? Oder wollen Sie damit nichts zu tun haben? Beunruhigt es Sie vielleicht sogar, dass immer mehr Menschen in Deutschland Asyl beantragen? Oder trifft beides auf Sie zu: Sind sie engagiert und beunruhigt? Finden Sie es vielleicht schwer, sich dazu eine klare Meinung zu bilden? Grenzen auf? Grenzen zu?

In diesem Fall habe ich einen typischen Tipp vom Prof: Ergänzen Sie doch die Talkshows, Video-Posts, Meinungsartikel, Tweets und Reportagen zur »Flüchtlingskrise« mit einem guten Aufsatz aus der Migrationsforschung. Beispielsweise erklärt der US-amerikanische Politikwissenschaftler James Hollifield bereits 1992, dass sich die Migrationspolitik liberaler Demokratien durch ein »liberales Paradoxon« auszeichnet: Einerseits müssen unsere Grenzen immer etwas offen bleiben – weil wir in globalen Zusammenhängen leben und weil wir auch Migranten Grundrechte gewähren (z. B. Asylrecht oder Familiennachzug). Andererseits sind viele Grundpfeiler unseres Zusammenlebens, beispielsweise politische Wahlen oder soziale Absicherung, auf dem Gedanken geschlossener Grenzen aufgebaut. Wenn wir heute also hin- und hergerissen sind zwischen offenen und geschlossenen Grenzen, zeigt das: Wir sind Kinder einer liberalen Demokratie und als solche gefangen im liberalen Paradoxon. Das kann man bedauern oder begrüßen. Fakt ist: Wer eine einfache Antwort auf die aktuelle Zuwanderung sucht, verlässt den Boden unseres politischen Systems – meist ohne eine Alternative anzubieten.

Sie dürfen und sollen also zweifeln! Aber Sie sollten nicht aufhören, darüber nachzudenken, wie wir das Leben im liberalen Paradoxon erträglich gestalten. Am besten tun Sie das mit den Kommilitoninnen und Kommilitonen, die eigene Fluchterfahrung haben und gerade versuchen, an Ihrer Hochschule Fuß zu fassen. Belassen Sie es nicht dabei, Asylsuchende bei ihrer Ankunft am Bahnhof mit Applaus zu empfangen. Nehmen Sie die Menschen in der Rolle ernst, in der sie Ihnen begegnen – beispielsweise als Studierende auf dem Campus. Gehen Sie auf einander zu, lernen Sie sich kennen. Diskutieren Sie über die Gesellschaft, in der Sie gemeinsam leben. Ein solcher Austausch ist mehr wert als jede Willkommensgeste. Er kann beide Seiten intellektuell voranbringen. Nur so finden wir irgendwann eine Antwort auf die Frage, wie wir Migration gestalten wollen.

Ihr

Prof. Dr. Hannes Schammann

Hannes Schammann ist Juniorprofessor für Migrationspolitik an der Universität Hildesheim. Zu seinen Forschungsschwerpunkten aus der Migrations- und Flüchtlingspolitik zählt die Frage, wie sich deutsche Hochschulen für Studierende mit Fluchterfahrung öffnen.


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