Vor rund zwei Monaten, am 7. Januar 2015, wurde ein Anschlag auf das französische Satire-Magazin „Charlie Hebdo“ verübt, bei dem zwölf Menschen starben. Wie haben Menschen in Paris diesen Tag erlebt? Wir haben eine DAAD-Lektorin und zwei Studenten nach ihren Gedanken, Gefühlen und Wünschen für die Zukunft gefragt.
Anna Britz ist DAAD-Lektorin in Paris und unterrichtet an der Université Paris-Sorbonne Studenten in Deutsch.
„Ich habe von dem Attentat auf Charlie Hebdo während einer Klausur erfahren, die meine Studenten am 7. Januar 2015 schrieben. Über mein Handy erhielt ich die Eilmeldung der Süddeutschen Zeitung und wusste somit mitten in der Klausuraufsicht, dass etwas Furchtbares passiert war. Ich habe diese kurze Nachricht in der Situation gar nicht richtig verstanden und mich erst zu Hause an den PC gesetzt und genauer nachgelesen. Nach dem ersten Schock über die Brutalität der Terroristen und die menschliche Tragödie wurden mir die Ausmaße dieses Schreckens erst richtig bewusst, als gegen Nachmittag mehrere Freunde aus Deutschland über Handy und Internet Kontakt zu mir aufnahmen und nachfragten, ob es mir gut gehe. Denn ich wohne im 11. Arrondissement – dort, wo es auch zu dem Anschlag kam.
Ich würde sagen, dass ich insgesamt in einer Art Schockstarre war, die in den folgenden Tagen von einer Traurigkeit abgelöst wurde, auf Grund der Ereignisse hier in Paris, aber irgendwie auch über den allgemeinen Zustand der Welt mit all den schrecklichen Dingen, die ja nicht nur in Paris zu diesem Zeitpunkt passiert sind.
Beeindruckend war der ‚marche républicaine‘ am 11. Januar, bei dem deutlich ein Gefühl des Zusammenhalts zu spüren war. Ich würde mir allerdings wünschen, dass dieser Marsch nicht nur eine Momenterscheinung war, sondern die Menschen tatsächlich für die dort verfochtenen Werte wie Meinungs- und Pressefreiheit oder das friedliche Zusammenleben verschiedener Nationalitäten und Religionen eintreten. Je suis Charlie sollte nicht auf Frankreich beschränkt sein, sondern auch den Opfern gewaltsamer Vorgehen weltweit gedenken.
Leider habe ich auch schon Erfahrungen mit Bewohnern der Vorstädten, den sogenannten Banlieues, gemacht, allerdings völlig unabhängig von ihrer eventuellen Religion oder Herkunft, die ich nicht kenne. Beim ‚Festival de l’Humanité‘, das in einer für seine Schwierigkeit bekannten Banlieue Courneuve stattfand, wurde mir mein Handy aus der Hand gerissen und meine Freunde wurden getreten und beleidigt. Durch Aussagen der Jugendlichen wie ‚Ist ja klar, dass wir Araber es wieder waren, wir sind es ja immer!‘ und ihr aggressives Verhalten wurde mir klar, dass die sozialen Probleme in Frankreich und vielleicht vor allem in Paris eine sehr reale und im Alltag präsente Wirklichkeit sind. Chancengleichheit, z. B. in Bezug auf Bildung, sehe ich als ein solches Problem, die geographische Isolation bildungsschwacher, sozial benachteiligter und häufig von Migrationshintergrund geprägten Gruppen ebenfalls. Viele Jugendliche erfüllen ein Klischee, das sowieso schon in Bezug auf sie besteht und leben nach dem Vorsatz, dass sie nichts mehr zu verlieren haben.
Ich hoffe, dass die Regierung und aber auch die Menschen allgemein aus den furchtbaren Ereignissen Lehren ziehen. Dass wieder verstärkt der Dialog zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen, aber auch unter den Bewohnern von Paris, gesucht wird, man einen Weg der Integration findet und so den Teufelskreis durchbricht.
Ich denke, dass für viele Einwohner von Paris, aber auch Touristen, die Attentate vor allem auch deshalb ein Schlag war, weil die ‚Stadt der Liebe‘, die meistbesuchte Stadt in Europa, die romantischste von allen, nun von einer Art Erdbeben erschüttert wurde. Paris ist für mich eine wunderbare Stadt, deren Charme man sicherlich schnell erliegen kann. Aber man muss alles mit Vorsicht genießen und darf nicht die Augen verschließen vor den Problemen und Missständen, die auch hier überall existieren.“
Etienne Sprösser studiert Deutsch-Französisches Recht an der Universität zu Köln und der Université Paris I Panthéon-Sorbonne.
„Charlie Hebdo kenne ich seit meiner Jugend, seit 2006, als die Zeitschrift die dänischen Mohammed-Karikaturen veröffentlichte. Insgesamt ist Satire und Verballhornung in Frankreich eine sehr geläufige Art der politischen Berichterstattung. Die politischen Satiren, ob auf gedrucktem Papier oder im Fernsehen, haben hierzulande nicht nur einen großen Unterhaltungswert und die von ihnen verbreiteten Inhalte werden tatsächlich ernst genommen. Nicht zuletzt auch, weil sie in der Vergangenheit für die Aufdeckung großer Skandale gesorgt haben.
Am 7. Januar befand ich mich in Straßburg bei meiner Familie. Wie die meisten französischen Studenten war auch ich in meiner Klausurenphase, und ich hatte mir vorgenommen, den Tag ausschließlich der Vorbereitung der nächsten Prüfungen zu widmen. Als ich von der Nachricht erfuhr, war der Lerntag selbstverständlich gelaufen. Ich habe die Ereignisse im Liveticker verfolgt, und versucht, nebenbei zu lernen, aber so pathetisch das jetzt auch klingt: Ich war einfach geschockt und unfähig, mich auf den Prüfungsstoff zu konzentrieren. Noch am selben Abend bin ich zurück nach Paris, im Zug war der Anschlag natürlich das einzige Gesprächsthema, und das große Polizeiaufgebot an den verschiedenen Bahnhöfen erinnerte noch zusätzlich an die Tragödie, die sich ereignet hatte.
In der Uni haben wir lediglich in einem einzigen Seminar eine Debatte über das Thema geführt. Die Professoren haben die Ereignisse ausgeblendet und sofort mit dem Lehrstoff angefangen. Unter den Studenten waren die Attentate jedoch eine Zeitlang das Gesprächsthema Nummer 1, aber ich würde behaupten, dass zumindest für uns, die wir zu dem Zeitpunkt Klausuren geschrieben haben, die Verarbeitung zwangsläufig durch Verdrängung erfolgt ist.
Die Probleme, mit denen Frankreich mit Blick auf den Anschlag zu kämpfen hat, sind natürlich sehr vielfältig und reichen wahrscheinlich von sozialer und räumlicher Abgrenzung einiger Bevölkerungsgruppen hin bis zu einem Scheitern des Bildungssystems.
Es wäre natürlich sehr erfreulich, wenn die jetzige Atmosphäre und dieser Wunsch nach einem friedlichen Zusammenhalt andauern könnten – aber das ist meines Erachtens utopisch. Das Schlagwort „Je suis Charlie“, das nach dem Anschlag die ganze Nation einte, ist mehrdeutig und kann zwar für die Verteidigung der Meinungsfreiheit stehen, aber auch als ein Verlangen nach mehr Sicherheit verstanden werden, um solche Anschläge zukünftig zu verhindern. Diese Dichotomie prägt zurzeit auch die politische Diskussion und ich hoffe deshalb, dass die Anschläge nicht als Rechtfertigung für eine freiheitseinschränkende Überwachungspolitik missbraucht werden.“
Noémie Jobard studiert Deutsche Sprach- und Kulturwissenschaften an der Universität Sorbonne Nouvelle in Paris.
„Mittwoch, 7. Januar 2015
8:00
Mein Wecker klingelt. Nach einem langen Lernabend fällt mir das Aufstehen schwer. Ich bin noch im Automatenmodus. Motivation gleich Null, Kaffee alternativlos.
Meinen Papierkram in der Hand, Rucksack und Tretroller auf dem Rücken, geh ich im Kopf mein Tagesprogramm durch: Prüfung, Seminar, dann Arbeit. Eindeutig: der heutige Tag verspricht ein langer zu werden. Das Wetter ist schlecht und ich verziehe genau dieselbe Miene wie alle in der Metro.
Endlich öffne ich die Tür zum Seminarraum und bin schon wieder die Letzte. Wie immer. Die Aufgabenblätter werden verteilt und mir ist schon jetzt klar: Im Linguistikkurs „Unregelmäßige Verben der deutschen Sprache“ wird meine Note wohl kaum höher ausfallen als meine Hände Finger haben.
11:30
Ich verlasse die Folterkammer und mach mich auf den Weg zum Kurs über die Aufklärung. Das Korrigieren der Hausaufgaben dauert mal wieder viel zu lange und geht mir so auf die Nerven, dass ich es nur mit den Augen auf mein Telefon gerichtet aushalte, in der Hoffnung, von einer lustigen SMS oder irgendeiner anderen kleinen Ablenkung errettet zu werden. In diesen Momenten danke ich dem Smartphone für seine Existenz.
Eilmeldung von Focus Online: Paris, Schießerei in der Redaktion von Charlie Hebdo
Mein Kopf ist mit einem Schlag wach. Das verheißt nichts Gutes. Anders als sonst lese ich sofort den ganzen Artikel. Aber verstehe ich das, was ich da lese wirklich richtig? Noémie, du kennst dich doch, so viel du auch auf Deutsch liest, du bist und bleibst die Königin des Am-Thema-vorbei-Übersetzens. Was du da liest kann nicht stimmen.
Eilmeldung von L’Express: Das was ich nicht glauben wollte, hat sich bestätigt.
19:30
Wieder zuhause, gilt mein erster Griff der Fernbedienung und ich schaue nacheinander die Nachrichten aller Kanäle. Anstatt über unseren traditionellen Dreikönigskuchen zu palavern, senden alle Spezialsendungen. Erst durch die Bilder, Videos und Augenzeugenberichte verstehe ich endlich, was da heute überhaupt passiert ist. Zwölf Menschen sind tot. Was für eine Tragödie.
Ja, auch mich hat es getroffen. Nein, das Magazin hab ich nie gelesen, aber ich weiß, dass es voll von humoristischen Zeichnungen war, die jede soziale, politische oder religiöse Gruppe aufs Korn genommen haben.
24:00
Ich gehe zwar zu Bett, aber schlafen kann ich nicht. Heute Abend tut mir Frankreich nicht leid, es tut mir weh. Das, was ich für unantastbar hielt, steht plötzlich in Frage: die Meinungsfreiheit.
Donnerstag, 8. Januar 2015
9:00
An der Uni steht ein Wachmann vor jeder Türe und hält uns auf. Wer durch die Tore des Haupteingangs will, muss erst durch die Taschen- und Identitätskontrolle.
10 Uhr 30
Prüfung zu Ende. Gern würde ich jetzt mit irgendjemandem über das zu sprechen, was gestern passiert ist. Seit gestern, habe ich kein Wort gesprochen. Aber es sind nur wenige, die bleiben, um darüber zu reden.
11 Uhr
In der Bibliothek. Ich habe gerade angefangen ernsthaft zu arbeiten, um mein Gewissen zu beruhigen. Mein Handy habe ich dennoch im Blick und es hört nicht auf, mir schlechte Nachrichten zu bringen: Vandalismus an den Moscheen, eine Polizistin erschossen.
12:00
Schweigeminute im Hof. Wie im Gebet wünsche ich mir, dass diese Gewalt ein Ende hat, und ich denke an die anderen Orte der Welt. Ich wende meinen Blick gen Himmel. Einige halten Stifte hoch.
Freitag, 9. Januar 2015
23:00
Für heute Abend hat eine Freundin eine Abschiedsparty geplant. Viele haben abgesagt, weil sie Angst haben. Ich nicht. Ein Freitagabend in Paris, an dem kein Mensch ausgeht? Das fühlt sich seltsam an.
Los! Wir tanzen. Ich will die letzten Tage vergessen.
Letztendlich sind die Leute sind dann doch vor die Türe und auf die Straßen gegangen. Dabei waren Ältere, denen das Laufen schon schwer fiel, Kinder, die auf ihrer ersten Demonstration waren, und auch ich, eine 20-jährige Studentin, bewaffnet mit einem einfachen Pappschild, das ich von Hand beschriftet hatte: ‚Liberté, Égalité, Fraternité‘. Denn die Bedeutung des Mottos unserer Nation war für mich nie klarer als jetzt. Erst in diesen Tagen habe ich verstanden, was diese Worte heißen.
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