Aus ihren Taschen kramen Studierende längst keine verstaubten Bücher mehr, sondern Smartphones, Tablets und Laptops. Die Digitalisierung ist gerade nicht nur dabei, die Industrie zu revolutionieren, sondern auch das Hochschulwesen. Zumindest theoretisch.
Analog war gestern. Die Mathestudentin von heute trägt ihre Formelsammlung als Smartphone-App bei sich. Genau wie der Romanistikstudent sein Französisch-Wörterbuch. Lexikainhalte lassen sich einfach in den Weiten des World Wide Web verstauen. Doch die Digitalisierung von Wissensbeständen dient nicht nur der Wissensaufbewahrung. Das Thema Big Data hält für die deutsche Hochschullandschaft noch mehr bereit.
Die Frage nach der technischen Ausstattung steht dabei allerdings noch nicht im Vordergrund. Zwar muss der Tageslichtprojektor immer öfter dem Beamer weichen. Aber neben zukunftsfähig ausgerüsteten Hörsälen geht es bei der Digitalisierung vor allem um einen Paradigmenwechsel. Lehrende und Lernende sollen besser miteinander vernetzt werden. Damit geht einher, das Top-Down-Verhältnis zwischen beiden Gruppen eventuell zu überdenken. Vor allem aber geht es darum, barrierefreie Zugänge zu Forschungs- und Lehrplattformen sowie neue Wege in der Studienorganisation und -betreuung zu schaffen.
Letzteres scheint sich dabei schneller umzusetzen als eingespielte Arbeitswege durch moderne Lehrmethoden in Frage zu stellen. So bietet inzwischen fast jede Einrichtung hierzulande mobile Anwendungssoftware an, die die praktische Seite des Studierens vereinfachen soll.
Mit »CampusKöln« etwa lassen sich die Hörsäle und Seminarräume am Rhein schneller orten. An der TU Dresden hilft einem der »Navigator«, Wickeltische und Fahrstühle ausfindig zu machen. Der mobile Assistent »Cassis« der Freien Universität in Berlin ermöglicht Studierenden, sich den Uni-Alltag übersichtlicher zu strukturieren. Gemäß dem Motto »App in den Hörsaal« wollen die digitalen Begleiter Zeit fürs Wesentliche schaffen: die Studieninhalte.
Gegen die Menge an Bürokratie und Vielzahl an administrativen Aufgaben, die vor jedem Pro-Seminar stehen, richten sie jedoch kaum etwas aus. Und nicht selten sind es ausgerechnet die Campus-Management-Systeme, die durch Bugs und missglückte Updates selbst immer wieder zum Problem werden.
Smarte Lehre mit dem Smartphone
Dabei gibt es längst vorzeigbare Innovationen, die den Ausbildungsprozess modernisieren. Oft in Form von Pilotprojekten.
Eines davon verantwortet Bernd Becker, Professor am Institut für Informatik der Uni Freiburg. Mehrere Jahre hat Becker mit seinem Team an einer digitalen Kommunikations-Methode gearbeitet. Herausgekommen ist 2014 SMILE – »Smartphone in der Lehre« –, eine interaktive Applikation, mit der Studierende dem Dozenten während der Vorlesung anonym direktes und zeitnahes Feedback geben können. Umgekehrt können die Studierenden per Quizfunktion Fragen beantworten und so eine Rückmeldung zu ihrem Wissensstand erhalten.
Auch die hessische Privatuniversität für Wirtschaft und Recht EBS hat es darauf angesetzt, den universitären Alltag digitaler zu gestalten. An unterschiedlichen Orten und von jedem Endgerät aus sollen Studierende und Lehrende Stundenpläne, Lehrstoff und Prüfungsergebnisse abrufen können. IT-Leiter Gerald Zöllner schwört dafür auf die Cloud. »Abhängig von der Zahl der eingeschriebenen Studenten und aktuellen Forschungsaufträgen«, erklärt er, »wächst oder schrumpft unsere Hochschule« – und damit auch die Nachfrage an Speicherkapazität. Statt langfristig Server anzuschaffen, holt sich die EBS bei Bedarf mehr Datenvolumen.
Doch um Vorlesungen in Echtzeit zu streamen, braucht es nicht nur die richtige Bandbreite, sondern auch ein angepasstes Lehrkonzept. Die RWTH Aachen bietet ihren 42.000 internationalen Studierenden an 260 Instituten in 30 Fächern Onlinekurse an. Multimediales Lernen in Form von Massive Open Online Courses (MOOCs), so die Idee, biete die bislang beste Alternative zum klassischen universitären Lehrbetrieb. Die traditionelle Präsenzpflicht ist für Berufstätige und Studierende mit Kindern oder aufgrund anderer Lebensumstände ohnehin schwer einzuhalten, lautet das Credo der Hochschulleitung. Von indidviduellen Lern- und Lebensgewohnheiten ganz zu schweigen.
Besser als die (gefilmte) Realität
Neben theoretischen Lektionen per Video vermitteln die MOOCs der RWTH Aachen etwa im Fach Wirtschaftswissenschaften mithilfe von Planspielen wie TransAction die tatsächliche Praxiserfahrung eines Automobilherstellers. Das Prädikat »fortschrittlich« verdient hat sich auch das Trainingszentrum am Uniklinikum Heidelberg. Dort können angehende Mediziner an Bildschirmen täuschend echte Operationen vornehmen, ganz ohne Risiken und Nebenwirkungen. Die an die Computer angeschlossenen Werkzeuge sind die gleichen, wie sie auch im eigentlichen OP verwendet werden. Während der Simulation herrschen dieselben Bedingungen vor wie in der Realität.
Ähnlich spektakulär sind bislang nur die Welten, die sich mithilfe von Virtual-Reality-Brillen aus der Games-Branche erschaffen lassen. Die dafür nötige Technik mutet wie eine überdimensional große Skibrille an, an die das eigene Smartphone oder iPad angeschlossen wird. Bewegt sich der Träger, passt die Software die für den User dargestellte Umgebung automatisch an. Diese Form der Interaktion ermöglicht gänzlich neue Arbeits- und Analysemethoden. Architekten können in ihren Modellen spazieren gehen. Maschinenbauer können sich an die Position jedes noch so kleinen Zahnrads versetzen lassen und neue Perspektiven einnehmen, um Abläufe und Prozesse besser zu begreifen.
Die Botschaft hinter diesen spielerischen Ansätzen lautet: Aufgezeichnete Vorlesungen online stellen, ist gut. Virtuelle Labore und Operationssäle bereitstellen, ist besser.
Grenzen verschieben, Potential entdecken
Sicher, weder Flugsimulator noch eine Laborsituation zu programmieren, ist billig. Das macht die Sache aber zum Glück nicht weniger attraktiv. Virtuelles oder zumindest teilweise online Studieren liegt im Trend. An der Ausschreibung der »MOOC-Production Fellowships« im Jahr 2013 durch den Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft wurde deutlich, wie groß das Interesse sowohl seitens der Lernenden (mehr als 200.000 Studierende haben sich für die Online-Kurse im Wintersemester 2013/14 eingeschrieben) als auch bei den Lehrenden beziehungsweise ihrer Institutionen ist (mehr als 190 deutsche Hochschulen haben Kurskonzepte eingereicht).
Solche Aktionen können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die meisten deutschen Hochschulen drei Jahre später noch immer lediglich auf E-Mails, PDFs und PowerPoint-Präsentationen beschränken. Die 70 Experten hinter der seit März 2014 bestehenden Initiative Hochschulforum Digitalisierung kommen zu dem Schluss: »Die Förderung der Digitalisierung findet zwar im Rahmen von Förderlinien wie dem Qualitätspakt Lehre des BMBF oder dem Wettbewerb exzellente Lehre von Stifterverband und KMK statt, doch steht sie dort nicht im Fokus.« In digitale Instrumente zu investieren, angepasste Lern- und Prüfunsszenarien zuzulassen, neue Marketingstrategien und, ja, auch Geschäftsmodelle zu entwickeln, kurz, das Zeitalter bahnbrechender Technologien mitzugestalten, scheint keine Priorität zu haben.
Vielleicht steckt dahinter die Angst, dass als Podcast verfügbare Vorlesungen leere Unis mit sich bringen? Den Campus als große Spielwiese zu begreifen, auf dem sich Nachwuchswissenschaftler austoben dürfen, erfordert Mut.
Wie Menschen lernen
Vielleicht liegt das Problem auch eher an dem schlechten Ruf computerbesessener Teenager. Den Verdacht, Studierende könnten aufgrund von zu vielen Gamification-Elementen schlechtere Studienergebnisse an den Tag legen, räumt eine dänische Jungfirma namens Labster vom Tisch. In Zusammenarbeit mit der Danmarks Tekniske Universitet, den Universitäten Stanford und Harvard, Hong Kong und einigen mehr haben die Gründer Mads Bonde und Michael Bodeaker die Disziplin der Biotechnologie an den beteiligten Fakultäten in ein virtuelles dreidimensionales Labor verwandelt. Und ganz nebenbei die Noten von 76 Prozent der Studierenden verbessert.
Den amerikanischen Ökonom Erik Brynjolfsson überrascht das nicht. Zahlreiche Medienberichte zitieren seine radikal anmutende Sichtweise, die in seinem Buch »The Second Machine Age« zum Tragen kommt: »Wir müssen unser Bildungssystem von Grund auf ändern. Wir müssen die Art ändern, wie Menschen lernen; die Zeiten sind vorbei, in denen man, wenn man lernt, nur still sitzt und einfach zuhört.«
Angesichts massenhafter Flüchtlingsbewegungen stellt sich beim Thema Lernen aber nicht nur die Frage nach dem Wie, sondern auch nach dem Wer. Mit dem Internet ließen sich Free Online Courses weltweit jederzeit zugänglich machen. Wenn »Talente fördern« mehr als ein prestigeträchtiger Slogan sein soll, dann gilt es auch, diese Talente zu finden.
Die Digitalisierung ist gerade nicht nur dabei, die Industrie zu revolutionieren, sondern auch das Hochschulwesen.