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Studium in Moskau

Russland, das Land der Widersprüche. Ohne Kontraste kommt keine Reisereportage, kein Dokumentarfilm, kein Leitartikel über das größte Land der Erde aus: Zwischen Immer-schon-Armen und Plötzlich-Neu-Reichen, zwischen Moskauer Metro und sibirischen Landschaften, zwischen sprudelnden Rohstoffquellen und ersterbendem Wirtschaftsgetriebe. Oft wirken sie arrangiert, doch ab und zu treffen sie tatsächlich zu. Wer sich für russische Hochschulen interessiert, stößt schnell auf einen Mikrokosmos im wohlhabenden Südwesten Moskaus. Und tatsächlich muss man dann für die vielbeschworenen Kontraste nicht mal den Campus der Moskauer Staatlichen Universität (MGU) verlassen, um etwas über dieses spannende Land zu erfahren.

Früh entspannt, abends emsig

Morgens, wenn um kurz nach neun Uhr in der Philologischen Fakultät die Veranstaltungen beginnen, zeigen sich die Studierenden von ihrer entspannten Seite. Auch bei fünfzehn Minuten Verspätung reiht man sich in die lange Schlange für einen Plastikbecherkaffee ein oder zündet sich noch eine Zigarette an. Die Dozenten in den kleinen Seminarräumen scheinen sich damit abgefunden zu haben. Ihre müden Studenten saßen am Abend zuvor vielleicht in einem der Restaurants der Stadt mit lauter, russischer Musik, einer Bar wie dem „Rolling Stones“ mit lauter, westlicher Musik oder mit einem Feierabendbier im Zimmer eines Freundes. Auf dem Campus herrscht Alkoholverbot, in den Wohnheimen werden trotzdem laute Partys gefeiert, solange der Etagenaufseher ein Auge zudrückt. Die meisten Studierenden allerdings saßen wahrscheinlich emsig in ihren Zimmern oder in der Metro, auf dem Weg zu ihren Eltern am Rand der Großstadt, und lasen ihre Texte. Wer hier Weltliteratur studiert, wälzt sich für ein einzelnes Seminar in wenigen Wochen durch gut tausend Seiten, vom französischen Symbolismus über Hesses Steppenwolf bis zu Hemmingways Knochenprosa.

Russlands Leuchtturmproblem

Für ein Studium an der MGU, dem verblassenden Leuchtturm unter den Hochschulen Russlands, braucht man entweder die entsprechenden Noten für ein Stipendium oder einen wohlhabenden Sponsor; dass es von denen einige gibt, zeigen die weißen und schwarzen SUVs mit deutschem Markenzeichen, die zur frühen Stunden um die Parkplätze kämpfen. Das Studium an der Universität kostet im Normalfall über 7000 Euro im Jahr. Im Gegenzug muss man den Campus nicht verlassen: Botanischen Garten, Lebensmittelläden, Restaurants, Banken, Apotheken, ein geologisches Museum, alles fußläufig erreichbar.

Über allem thront der Präsident der Universität, Viktor Sadovnichy, seit 21 Jahren besetzt er diesen Posten. In allmonatlichen Interviews legt er seine Meinung zu den buntesten Themen dar, und auch im Hauptgebäude, dem sowjetischen Monumentalgebäude und Stolz der Universität, ist er dauerpräsent; die Flachbildschirme zeigen den charismatischen Universitätsvater bei Treffen mit anderen Granden aus Russland und der Welt. Dazwischen mischen sich ab und zu die aktuellen Uni-Rankings, hier läuft der Anspruch der Realität davon: Im Reputations-Ranking der Times stand die MGU dieses Jahr, nach letztjährigem Fehlen, auf Platz 50, im Universitätsvergleich jedoch abgeschlagen+ hinter der 200er-Marke.

Wenn das „i“ zur Masse wird

Die Geräte, die Kamera, Notizzettel und Schminkspiegel verbinden, sind hier allgegenwärtig: Smartphone und Tablets, selten mal ein Notebook. Kaum ein Gerät, auf dem nicht ein leuchtender Apfel prangt, starke und teure Marken werden in Russland schnell zum Statussymbol. Jeder kann sie sich leisten – oder soll sie sich leisten. In Bankfilialen werden günstige Konditionen für jeden versprochen, auf dem Weg in die Moskauer Metro wechseln sich die Werbeplakate mit den neusten Angeboten von Mediamarkt und Kreditbanken ab. Die Neuanschaffungen dann mit Inhalt zu füllen ist dank einer semilegalen Kulturflatrate kein Problem: E-Books finden sich schnell und kostenlos auf russischen Seiten, Musik und Filme konsumieren alle Altersgruppen im osteuropäischen Facebook-Äquivalent VKontakte. Hier veröffentlicht man auch Fotos und Videos, deren Urheber davon nichts wissen, alles, ohne in Angst zu leben, dass eine Abmahnung ins Haus flattert.

So fortschrittlich die Studierenden mit der Technik des 21. Jahrhunderts auch umgehen mögen, die Organisation ihres Studiums läuft noch im Fluss der alten Zeiten. Den eigenen Stundenplan überprüfen sie mithilfe der Aushänge vor den entsprechenden Lehrstühlen. Die Dokumente für Ausweise und Stipendium geben sie persönlich und original gestempelt bei der zuständigen Sachbearbeiterin ab, auf Antworten per E-Mail wartet man vergeblich. Tafelbilder werden per Tablet und Smartphone abfotografiert und den fehlenden Kommilitonen zugeschickt. Eine hochschulweite Internetplattform für Materialien und Terminabsprachen gibt es nicht. Solche Lücken werden dezentral geschlossen, wenn etwa einige Dozenten der jüngeren Generation für ihre Kurse Mailinglisten oder Gruppen in den sozialen Netzwerken eröffnen. Es zeigt, dass man woanders wahrscheinlich eine bessere Lehre genießen würde. Doch der Charme dieser Universität wird erhalten bleiben, solange sich auf diesem Campus Gedenktage zum Großen Vaterländischen Krieg mit spontanen Harlem Shakes abwechseln können.

Titelbild: Illustration von Xenia Smykovskaya

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Quelle: Wikimedia Commons

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