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Twitteratur – Gezwitscherte Geschichten

Tweets haben maximal 140 Zeichen. Literatur füllt ganze Bücher und Bibliotheken. Was auf den ersten Blick wie ein Gegensatz erscheint, muss nicht unbedingt einer sein. Manchmal fügen sich Tweets und Literatur wunderbar zusammen und werden zur Twitteratur.

Ob Ovid, Goethe, Klopstock oder Schiller: Viele große Dichter unserer Literaturgeschichte haben sich an zwei- bis vierzeiligen Gedichten und Geschichten versucht. Nur werden diese im Fall der antiken und klassischen Meister Elegien, Epigramme oder Aphorismen, manchmal auch Limericks oder Haikus genannt. Nicht aber Twitteratur. Auf den ersten Blick scheint es vermessen, Goethe, Schiller und Twitteratur-Autoren in eine Tradition zu stellen. Und bei Weitem die wenigsten Internetpoeten halten diesem Vergleich stand. Doch einige schaffen es, die scheinbar banale Kommunikationsform der Tweets zur Kunstform zu beflügeln. Dann werden Tweets zur Twitteratur. Dann werden aus 140 Zeichen gezwitscherte Geschichten.

Jeder, der einmal versucht hat, etwas Bedeutungsvolles, Geistreiches oder Lustiges zu schreiben, weiß wie schwer es ist, die richtigen Worte zu finden. Die Gefahr abgedroschen, ignorant oder bedeutungslos zu klingen hängt ständig wie ein Damokles-Schwert über einem. Noch schwerer wird es, wenn man dafür nur 140 Zeichen hat – alleine dieser Abschnitt hat bis hier hin bereits über 300. Wer also in der Lage ist, mit nur wenigen Worten etwas auszudrücken, was nicht banal, belanglos oder gar vollkommen unwichtig ist, darf sich zu Recht als Literat bezeichnen.

„just setting up my twttr.“

Seit der Gründung von Twitter 2006 und den ersten holprigen Tweets ist das Netzwerk in den letzten sieben Jahren zu einem globalen Phänomen geworden. Millionen von Menschen weltweit nutzen es täglich. Die Großzahl davon, um mitzuteilen, was sie gegessen, wen sie getroffen, was sie gekauft haben, um sich zu informieren oder um zu zeigen, wie toll sie heute wieder aussehen. Einige andere sehen die Tweets als literarische und künstlerische Herausforderung. So stellten sich beispielsweise 2009 zwei Studenten aus Chicago der Herausforderung, bedeutende Werke der Literaturgeschichte in weniger als 20 Tweets – also 2.800 Zeichen – nachzuzwitschern. Anna Karenina wirft sich dann schon nach wenigen hundert Zeichen und nicht erst nach mehreren hundert Seiten vor den Zug. Und auch James Joyces Echtzeitroman Ulysses wird im Echtzeitmedium Twitter zur geistreichen Nacherzählung seiner selbst. Davon inspiriert, rief 2011 der Carl Hanser Verlag Twitter- und Literaturfans dazu auf, unter #twitteratur in maximal 15 Tweets das eigene Lieblingsbuch neu zu erzählen, und suchte die schönsten davon aus. Und manchmal finden sogar ganze Literaturfestivals nur über Twitter statt.

Momentan zwitschert der amerikanische Oceans Eleven- Regisseur Steven Soderbergh seine Novella Glue unter @Bitchuation live für jedermann zum mitverfolgen. Auch in Deutschland nutzen viele Künstler das Medium als kreative Bühne. Allen voran die Autorin Anousch Müller, deren herrlich melancholisches, ironisches Gezwitscher es bereits als eBook zu kaufen gibt.

Twitter ist also zu weit mehr fähig, als man vermuten möchte. Solange es Nutzer hat, die die künsterlische Herausforderung in 140 Zeichen sehen und annehmen, ist es mehr als nur ein digitales Kaffeekränzchen. Dann ist es eine Ideenschmiede in Echtzeit. Und wie das so bei Ideenschmieden ist: Nicht alles, was dabei herauskommt, sollte viel Aufmerksamkeit bekommen. Vieles davon kann ruhigen Gewissens im Datenberg des Internets untergehen. Aber einige wenige sind es wert herauszuleuchten. Denn auch Goethe war seinerzeit nur einer unter vielen Schriftstellern.

Hier ist eine kleine Twitteratur-Kostprobe für Dich:

1. “Anna Karenina” oder “Ich hab einen Freund, der ist Lastwagenfahrer”? Nummer 2 natürlich!
(Quelle: https://twitter.com/Lelarh/status/394556242997571584)

2. Es gibt Licht es gibt Schatten, wie sonst spielten wir Schach?
(Quelle: https://twitter.com/lrinaldetti/status/394122153505075203)

3. Angela das Volk und Fragen
(Quelle: https://twitter.com/netzanalyse/status/393810627439104000)

4. Der Riss verläuft zwischen denen, die schreiben und denen, die kritisieren.
(Quelle: https://twitter.com/Anousch/status/393664558877118464)

5. Manche Menschen sind so vorsichtig, die sterben fast wie neu.
(Quelle: https://twitter.com/nutellaundmett/status/393634475437195264)

6. Der Kindle ist mein Krafttier.
(Quelle: https://twitter.com/Anousch/status/393345894646427648)

7. How dull it is to pause, to make an end. To rust unburnished, not to shine in use! As though to breathe were life!
(Quelle: https://twitter.com/nbanteka/status/393169154586320896)

8.”People blow people. It happens.” CLEAR HISTORY
(Quelle: https://twitter.com/Bitchuation/status/367396650483851264)

9. Neue #Twitkrit: Wenn Trolle getrollt werden, bildet sich ein Schwarzes Loch.
(Quelle: https://twitter.com/twitkrit/status/282836429854355456)

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