Sie kosten meist zwölf Euro, man taucht für einige Stun- den in eine neue Welt ein und ist am Ende um eine Er- fahrung reicher. Indie-Spiele werden gehypt wie noch nie – oft zu Recht. Doch was sind sie? Reines Marketing-Label, die Lust nach Ideen oder eine unterschätzte Kunstform?
Auf der Skala der Spieleentwickler stehen auf der einen Seite Studios, die knapp zwei Milli- arden Euro Umsatz im Quartal machen, Figu- ren in Lebensgröße in Elektronikmärkten auf- stellen und deren Geschichten von Millionen Menschen weltweit gespielt werden. Am an- deren Ende steht, nicht alleine, aber am sicht- barsten, die amerikanische Game Designerin Anna Antrophy. In ihrem Buch Rise of the Videogame Zinesters wünscht sie sich persön- liche Werke von authentischen Köpfen anstatt unpersönlicher Kreationen einer gesichtslosen Masse von Programmierern und Graphikern. Man weiß, was sie meint, wenn man in ihrem Spiel dys4ia die Hormontherapie eines Trans- genders miterlebt.
Gut, doch wer besetzt die große Grauzone auf der Skala zwischen diesen Extremen? Gerade in Deutschland, mit den vergleichsweise weni- gen großen Studios? Schnell stößt man dann auf die sogenannten Indie-Games. Sind das also die Spiele, die nicht nur dem Mitteilungs- drang eines Entwicklers genügen, sondern auch ein größeres Publikum erreichen sollen und trotzdem nicht so vorhersehbar sind wie der Ladebildschirm der Playstation One? Wer entscheidet, was auf unseren Festplatten lan- det? Das Geld, die Idee, das Marketing, die Lust am Erschaffen?
Die Vision: Horror in der U-Bahn
Als Malte Boettcher an einem Frühlingstag in der U-Bahnstation am Brandenburger Tor steht, pendeln die Züge am einen Ende der Gleise zum Hauptbahnhof, am anderen wird die Verbindung zum Alexanderplatz gebaut. Wenn es nach ihm geht, herrschen hier dem- nächst Panik und Horror – zumindest virtuell. Denn hier wollen Malte und sein Team mit dem Spiel »U55: End of the Line« das unbe- kannte Grauen zum Leben erwecken, das in den Tunneln von Berlin-Mitte haust. Seine Idee: Ein Spiel, das den Horror der Erzäh- lungen von H. P. Lovecraft ins Berlin des 21. Jahrhunderts trägt. Die Grafik realistisch; der Soundtrack atmosphärisch dicht; der Protago- nist ein amerikanischer Student; als Waffe le- diglich ein Smartphone mit fast leerem Akku. Malte hat sich für seine Idee ausbilden lassen, er ist Absolvent der Games Academy, einer Hochschule für diejenigen, die es in die Spie- leindustrie zieht. Im Rahmen eines Studen- tenprojekts wollte er damals schon seine Idee zum Spiel machen, durfte es aber nicht – seine Gruppe war zu groß. Die Dozenten ließen nur zehn Kommilitonen zu, mitmachen wollten 23. Erst mit dem eigenen Abschluss in der Tasche und einem guten Netzwerk in der Spielebran- che wollte Malte U55 als Kickstarter-Projekt über Crowdfunding finanzieren. Interessierte Geldgeber meldeten sich, sein Entwicklerteam wuchs, auch die Lovecraft-Fans konnte er für sich gewinnen. Am Ende jedoch der Rück- schlag: Von den angestrebten 115.000 Euro kamen lediglich 70.000 Euro zusammen – be- achtlich, aber wer beim Crowdfunding das selbstgesteckte Ziel nicht erreicht, bekommt keinen Cent. Das Ziel des eigenen Spiels rück- te für Malte und sein Team zunächst wieder in weite Ferne.
Ein Studio voller Autodidakten
Nicht jedes Spieleprojekt startet mit einer konkreten Idee. So auch 2009 in Kassel, meta- phorisch gesehen begann die Arbeit des Black Pants Studio nicht als Luftschloss, sondern im Maschinenraum. Informatikstudenten der Uni Kassel hatten eine eigene Engine programmiert, ihnen schlossen sich weitere Kreative, Grafiker, Filmemacher an und begannen da- mit, ein Spiel zu basteln. Und das ziemlich er- folgreich: Ihre erste Demo wurde in der ersten Woche über zehntausend Mal heruntergela- den.
Sebastian Stamm ist im Black Pants Studio für das Artwork zuständig und beginnt die Ge- schichte der Entwicklung ihres Spiels Tiny and Big: Grandpa’s Leftover mit dem Geständnis eines Autodidakten: »Niemand von uns hat ge- lernt, wie man Spiele macht.« Dinge, die man als Spieler für selbstverständlich hält, musste das Team sich erst einmal erarbeiten. So merk- ten sie erst nach Veröffentlichung der Demo, dass jedes Spiel ja auch etwas braucht, das dem Helden als Ziel dient und ihn motiviert. Klas- sisch gewordene Computerspiele greifen auch heute noch gerne auf das Klischee der Prinzes- sin zurück, Sebastian und sein Team wählten bei einer Bierrunde das letzte Erbstück des Opas vom Protagonisten Tiny aus: eine Unter- hose. So kam es dazu, dass man in Tiny and Big den Bösewicht Big verfolgt, der eben diese Unterhose auf seinem Kopf trägt.
Staatshilfe fürs eigene Spiel
Wie gesagt, die Demo war ein voller Erfolg, doch nun ging es darum, in der heißen Ent- wicklungsphase Geld für die eigene Miete zu kriegen. Kein Crowdfunding, kein großer In- vestor, nein, die Finanzspritze kam über das Gründerstipendium EXIST von einem Bun- desministerium. Amerikanische Kollegen fra- gen Sebastian auch heute noch ungläubig: Wie, ihr habt Geld vom Staat bekommen? Es folgten Einladungen zu Messen, dann Indie-Aus- zeichnungen, zuletzt der deutsche Compu- terspielpreis. Ein neues Büro in Berlin wurde aufgrund der Nähe zur Entwicklerszene ge- gründet, Wachstum steht jetzt nicht an erster Stelle. Die Firma ist genossenschaftlich orga- nisiert, der Geist des Mittelstandes weht hier durch die flatterhafte Spielebranche.
Diese Rahmenbedingungen wirken sich auch auf unser Spielerlebnis aus. Für Sebastian steht Indie zunächst für die eigene Unabhängigkeit: keine Vorgaben seitens eines Publishers, im Zweifel das letzte Wort im eigenen Bereich. Das ist die Seite der Spieleentwickler, die ihre Visionen erfüllt sehen wollen, damit am Ende Spiele nach ihren Vorstellungen entstehen. Die Seite der Spieler ist zunächst eine andere: Indie hat dann weniger mit den konkreten Produk- tionsbedingungen eines Spiels zu tun, sondern ist ein Label für Ungewöhnliches, Überra- schendes, Innovatives. Wir wissen erst, was Indie ist, wenn es schon da ist; vorhersagen müssen es die Entwickler. Und natürlich be- dingt das eine das andere: Dass sich Tiny and Big so indie und anders spielt, liegt zum einen an der finanziellen Unabhängigkeit des Stu- dios, aber auch am fehlenden Know-How zu Beginn. Oder wie Sebastian sagt: »Wir konnten uns nie an den Mainstream halten. Wir kannten den gar nicht.«
Der Kern hinter dem Indie-Hype
Zu Recht wird der Indie-Begriff ständig prob- lematisiert: Nicht jedes Indie-Spiel überzeugt und manche Studios bezeichnen ihre Spiele als Post-Indie. Indie meint Identifizieren. Den Schritt, den Blick nicht an der Oberfläche ei- nes Spiel zu belassen, sondern einen neuen Zugang zu dem Medium zu erhalten, dessen prägende Erlebnisse meist aus unserer Kind- heit stammen. Das passiert, wenn Spieler sich nicht ständig von ewig gleichen Plots oder dem eigenen Sammeltrieb hereinlegen lassen. Das passiert, wenn Entwickler ihre Arbeit als selbstgewählte und immer wieder herausfor- dernde Art des Lebensunterhalts sehen.
Bei Malte von U55 ist es dieser Wunsch, der überzeugen konnte: Nach der gescheiterten Kickstarter-Aktion wurden weitere Investoren auf das Projekt aufmerksam, mit den Lehren aus der letzten Kampagne arbeitet das Team von U55 mittlerweile an einer neuen Samme- laktion auf der schwedischen Seite FundedBy- Me. Ende 2014 hofft Malte mit seinem Team die erste Episode des Berlin-Spiels mit rund drei Stunden Spielzeit veröffentlichen zu kön- nen. Weitere sind schon in Planung.
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